Steuersenkung – Handel schon wieder gefordert. Die Mehrwertsteuersenkung kostet den Handel Millionen. Der Impuls einer Nachfragestimulierung dürfte aber ausbleiben. Ziel verfehlt. Ein Kommentar von Michael Gerling, Geschäftsführer des EHI Retail Institute, Köln.
LEH druckt 200 Mio. Preisschilder //
Die Vorbereitungen laufen auf Hochtouren. Große Teile des Einzelhandels in Deutschland bereiten Ihre Etikettendrucker gerade auf eine unerwartete Hochsaison vor. Artikelpreise werden breitflächig neu kalkuliert, Unmengen von Regaletiketten und Tonerpatronen werden bestellt und die Kassensoftware wird modifiziert.
Steuersenkung – Handel schon wieder gefordert
Der Handel muss jetzt umsetzen, was die Politik in einer Hauruck-Aktion beschlossen hat. Eine temporäre Senkung der Umsatzsteuer soll im 2. Halbjahr 2020 dafür sorgen, dass die Kassen kräftig klingeln. Dumm nur, dass der Lebensmittelhandel diesen Konsumimpuls überhaupt nicht benötigt und die Nonfood-Händler längst mit hohen zweistelligen Rabattaktionen um die Gunst der Kunden werben. Da ist die Senkung der Umsatzsteuer um 2 bzw. 3 Prozentpunkte überflüssig oder nicht mehr als ein Tropfen auf den heißen Stein. Und, es werden durch die Änderungen der Verbraucherpreise enorme Kosten entstehen.
Es gilt als sicher, das große Teile des Lebensmittelhandels die Steuersenkung durch breitflächige Preissenkungen über das gesamte Sortiment hinweg umsetzen werden. Die Fokussierung von Preisreduzierungen auf Eckartikel ist offensichtlich vom Tisch und den einfachen Weg eines Rabattes auf die Bonsumme werden nur wenige wählen.
LEH: Millionen für Umetikettierung
Insgesamt dürften zur Jahresmitte 2020 allein im Lebensmitteleinzelhandel etwa 200 Mio. Regaletiketten neu gedruckt und gesteckt werden. Bei einem Aufwand für Arbeit und Material von 10 bis 15 Cent pro Etikett kostet das die Unternehmen 20 bis 30 Mio. Euro. Ein Betrag, der angesichts des Branchenumsatzes von 180 Mrd. Euro zunächst überschaubar erscheint.
Hinzu kommen allerdings weitere Kosten für die Preisreaktionen nach dem Umsetzungsstichtag, wenn der Handel auf die neue Preissetzung des Wettbewerbs reagieren muss sowie die Kosten für Preiskalkulation und die Umstellung der gut 200.000 Kassen. Insgesamt dürften sich die Umstellungskosten damit auf fast 50 Mio. Euro belaufen, wie gesagt, es geht hier nur um den Lebensmittelhandel. Und, auch dieser Betrag muss natürlich erwirtschaftet werden. Würden auch Drogeriemärkte, Baumärkte und der Fachhandel für Tiernahrung die breitflächigen Preissenkungen mitgehen, würden sich die Kosten nahezu verdoppeln.
Um die zusätzlichen Kosten des Lebensmitteleinzelhandels durch Mehrumsatz zu decken, müssten die Kunden rund 1,5 Mrd. Euro mehr für Lebensmittel ausgeben als üblich. Schwer zu glauben, dass dies aktuell zu erreichen ist. Gastronomie und Kantinen haben den Betrieb wieder aufgenommen, Reisen ins Ausland sind wieder möglich und die Steuersenkung wird vor allem den Preiswettbewerb anheizen. Die zu erwartenden Preissenkungen, die zu Lasten der Spanne über die Senkung der Umsatzsteuer hinaus an die Kunden weitergegeben werden, sind bei dieser Betrachtung nämlich noch nicht einmal berücksichtigt.
LEH: Aggressive Preise der Discounter erwartet
Eigentlich hätten alle Unternehmen es sich einfach machen können. Die schlichte Weitergabe der Umsatzsteuersenkung als Rabatt auf die Endsumme des Kassenbons wäre eine saubere und einfach umzusetzende Lösung gewesen. Keine Änderungen an den Preisen, nur ein paar neue Codezeilen in der Kassensoftware und alle hätten damit leben können. Die Kunden hätten Tag für Tag sehen können, dass Sie durch die reduzierte Steuer 2,5 Prozent bzw. 1,87 Prozent weniger zahlen und alle Beteiligten hätten eine gute Lösung gehabt.
Warum aber wird der Lebensmittelhandel einen anderen Weg einschlagen? Ganz einfach: Nicht noch einmal möchten die Vollsortimenter im Wettbewerb mit den Discountern ins Hintertreffen geraten. Bei der Währungsumstellung zum Jahresbeginn 2002 hatten die Discounter mehr in die Preise investiert als rechnerisch nötig gewesen wäre, und dies auch werblich beim Kunden bestens platziert. Mit dem Ergebnis klarer Marktanteilsgewinne.
Jetzt möchten sich die Vollsortimenter die im ersten Halbjahr eroberten Marktanteile nicht wieder abnehmen lassen und werden sich auf Preisattacken der Discounter entsprechend vorbereiten. Eine schlichte Weitergabe der Steuersenkung über den Kassenbon-Rabatt wäre dabei aber wahrscheinlich nicht ausreichend. Daher sind sie bereit, die bittere Pille der aufwändigen Preisänderungen zu schlucken. Die Verbraucher können sich freuen, andere Beteiligte der Lieferkette werden sich dagegen darauf einstellen müssen, ihren Anteil an den durch den Wettbewerb erzwungenen Preisreduzierungen beizutragen.
Und im Gegensatz zur Bonlösung hat die Preisreduktion über das gesamte Sortiment einen weiteren handfesten Vorteil. Während die Bonrabatte zum Jahresbeginn mit ziemlicher Sicherheit wieder gestrichen werden, werden die Preise nach einer breitflächigen Senkung wahrscheinlich im 2. Halbjahr sukzessive angepasst und zum Jahreswechsel wird es keine umfassenden Preiserhöhungen geben müssen.
Freuen können sich im Moment aber alle Betriebe, die bereits in elektronische Regaletiketten investiert haben. Für sie lässt sich die Änderung einfach umsetzen und es ist schon jetzt zu vernehmen, dass die Investitionen in diese Technologie weiter forciert werden.
Nonfood: Keine einheitliche Lösung
Im Nonfood-Handel wird das Bild weit weniger einheitlich aussehen. Eine Umzeichnung aller Artikel ist in vielen Betriebsformen schlichtweg unmöglich. Allein die schlichte Menge einzeln ausgezeichneter Artikel macht in diesen Branchen eine vollständige Umzeichnung unmöglich. Hinzu kommt, dass die Preisauszeichnung oft bereits in der Produktion erfolgt und in den Betrieben üblicherweise mit Rabatten an der Kasse gearbeitet wird. So kann davon ausgegangen werden, dass die Steuersenkung im Nonfood-Handel auch durch verschiedene Spielarten von Rabatten umgesetzt wird.
Viele Unternehmen werden aber hoffentlich auch dem Beispiel der Gastronomie folgen und versuchen, die Umsatzsteuersenkung nicht durch eine zusätzliche Preisreduktion an die Kunden weiterzugeben. Rabatte von 20, 30 oder 40 Prozent sind im Nonfood-Handel aktuell ohnehin schon Tagesgeschäft. Die Lager sind voll und die Ware muss raus. Werblich werden die Unternehmen weiter trommeln.
Ziel verfehlt
Wie ist die Steuersenkung also aus Sicht des Handels zu beurteilen? Der Impuls einer Nachfragestimulierung dürfte ausbleiben. Da sind sich eigentlich alle im Handel sicher, der Kfz-Handel wahrscheinlich ausgenommen.
Lebensmittel-, Drogerie- und Baumärkte brauchen keine Nachfrageimpulse. Sie haben – von einigen Ausnahmen abgesehen – von der Situation profitiert. Sie werden jetzt stark belastet, aber sie sind wirtschaftlich in der Lage, die Last zu tragen. Auch für den Online-Handel ist die Welt nach anfänglichen Umsatzeinbußen in guter Ordnung, er kann die Steuersenkung werblich nutzen und hat auch den Spielraum, zusätzliche Rabatte an die Kunden weiterzugeben.
Der stationäre Nonfood-Handel steckt dagegen in großen Schwierigkeiten. Die dramatischen Umsatzeinbrüche durch die Schließung der Geschäfte und der Druck durch die extrem hohen Warenbestände sind enorm. Hier wird bereits mit hohen Rabatten geworben und man kann nur hoffen, dass die Unternehmen in der Lages sein werden, die Steuersenkung nicht an die Kunden weitergeben zu müssen.
Ein letzter Punkt wird bisher kaum thematisiert. Eine unterjährige Änderung der Umsatzsteuer bringt für viele Unternehmen gravierende organisatorische Probleme. Bei Rechnungen gilt grundsätzlich der Leistungszeitpunkt. Abo-Rechnungen, die bereits gestellt sind, müssen voraussichtlich korrigiert und zu viel gezahlte Steuern zurückerstattet werden. Gleiches gilt für alle Waren und Dienstleistungen mit Liefer- bzw. Leistungszeitpunkt im 2. Halbjahr, die bereits vor dem 1. Juli 2020 berechnet wurden. Für den Einzelhandel ist das nur in Teilbereichen relevant, die Wirtschaft insgesamt braucht hier aber dringend eine pragmatische Durchführungsvorschrift.
[Text: Michael Gerling/Bild: EHI Retail Institute]